dreifach Wasserscheide

Mein Büssli steht auf dem einfachen Stellplatz ausserhalb vom Dorf. Bivio ist die letzte Ortschaft vor dem Julierpass, welcher ins Oberengadin führt. Der gut ausgebaute Pass ist heute die Hauptverbindung ins hochgelegene Alpental. Früher war dies ganz anders. Seit der Römerzeit war der Septimerpass einer der wichtigsten Alpenübergänge. Der Septimer führt von Bivio nach Casaccia, verbindet also den Oberhalbstein im Norden mit dem Bergell im Süden. Die direkte Nord-Süd Verbindung und die ideale Topographie waren die grossen Vorteile. Heute ist der Septimer beliebter Übergang für Mountainbiker.

Am frühen Morgen trifft Rolf in Bivio ein. Zusammen werden wir Neuland erkunden.
Gleich zu Beginn steigt die Alpstrasse ordentlich an, gefolgt von einer schönen Hochebene und dem zweiten Anstieg. Auf der Nordseite ist der Pass nichts Besonderes. Die gesamte Steigung erfolgt auf einer Alpstrasse. Auf 2’310 Meter stellen wir erstaunt fest, dass der Septimer erreicht ist. Wie ein klassischer Fusspass fühlt sicher dieser nicht an. Da bin ich schon ein wenig enttäuscht.

Anhand von Bildern und der Topo-Karte, müsste die Südseite viel schöner sein. Vor allem soll es dort noch Spuren vom alten Karrenweg geben. Egal, wir biegen links ab und verlassen die geschichtsträchtige Route. Der nächste, etwas mehr als 300 Meter höher gelegene, Pass wird angepeilt. Der Trail lässt den Puls ansteigen und die Schuhsohlen aktivieren. Auf einigen Abschnitten schieben wir unsere Bikes dem Highlight entgegen.

Wow, ich liebe solche Orte. Der Pass Lunghin lässt mein Herz gleich strahlen. Dieser Ort ist einfach magisch. Es ist die einzige dreifache Wasserscheide Europas. Eine schlichte dreieckige Steinskulptur veranschaulicht dies sehr schön. Ist die Wasserschale voll, so kann das Wasser von dort via den drei Rinnen ablaufen. Je nachdem durch welche Rinne das Wasser abläuft, fliesst es in die Nordsee, ins Mittelmeer oder ins schwarze Meer.

Ist das nicht Wahnsinn?
Vor meinem inneren Auge geht die Weltkarte auf, und meine Gedanken fliessen in drei Himmelsrichtungen, weit in die Welt hinaus 😊. Wie lange jeder Wassertropfen wohl bis ins gewählte Meer unterwegs ist? Schliessen die drei befreundeten Wassertropfen eine Wette ab, wer zuerst in seinem Meer eintrifft?

Genug geträumt.
Unter uns glänzt der schön eingebettete Lägh dal Lunghin. Aber etwas habe ich Rolf verschwiegen. Ich möchte eine Zusatzschlaufe ziehen, bevor wir zum Bergsee fahren. Mir war klar, dass er für alles zu haben ist. Auf geht’s zum Piz.

Das Bike muss bis kurz vor der finalen Felsplatte auf die Schultern. Dort deponieren wir unsere Zweiräder.
Der Blick ins Bergell, auf den Malojapass, das Oberengadin mit ihren Seen, die Bergwelt und Gletscher … fantastisch. Das Oberengadin ist wirklich ein Landschaftswunder.
Klar sind wir nicht die Einzigen hier oben. Darum entschliessen wir uns, die Mittagspause unten am See zu verbringen.

Wir kraxeln auf allen Vieren die Felsplatte runter zu den Bikes und … yeah, Steinsurfen. Die Abfahrt ist ja mal der Hammer. Das war der genialste Abschnitt vom heutigen Tag. Die Zusatzschlaufe hat sich mehr als gelohnt.

Beim folgenden Abschnitt haben wir uns voll verkalkuliert, vielleicht auch zu wenig recherchiert. Ab dem See geht es über den Höhenweg Richtung Grevasalvas. Das lohnt sich definitiv nicht. Immer wieder muss das Bike geschoben oder geschultert werden. Die unfahrbaren Abschnitte lassen keinen Flow aufkommen. Erst nach der Verzweigung beim Heididorf kommt Freude auf.

Das nächste Mal würde ich die direkte Abfahrt nach Maloja wählen und anschliessend von der hinteren Seite den Silsersee geniessen.

Von Sils geht es für uns vorbei am Silvaplanersee, wo sich viele Kitesurfer tummeln, bis St.Moritz. Hier im Oberengadin ist immer tüchtig was los. Wir geniessen das lebhafte Treiben bei einem kühlen Drink.

Nächste Etappe ist der Julierpass. Diese Höhenmeter schenkt uns das gelbe Postauto mit ihren einladenden Biketräger am Heck. Eigentlich hätte uns der Bus bis Bivio chauffiert. Vielleicht wäre diese Variante nicht viel schlechter gewesen.
Naja, wir möchten noch ein paar Trails fahren. Die ersten Meter ab dem Pass sind ganz akzeptabel. Dann folgt die grosse Ebene mit saftig grünen Wiesen. Aber nein, der Pfad verläuft nicht flüssig über diese Ebene, sondern seitlich davon, entlang von Felsbrocken über einen von Kühen durchlöcherten Boden.
Wir mühen uns ab und schätzen jeden gut fahrbaren Meter. Als hätten wir noch nicht genug, führt der Weg durch ein wildes Tobel und auf der andern Seite wieder hoch. Bivio ist in Sicht. Jetzt noch die letzten Kuh-Trampelpfade.

Die Abfahrt vom Julier nach Bivio ist definitiv nicht berauschend. Sogar zum Wandern hätte ich auf diesem Weg keine Lust. Mit einer Kombination aus Trail und Asphalt würde man einfacher und spassiger vorwärts kommen.

Man darf nicht immer und überall die besten Trails erwarten. Auch solche Erfahrungen gehören dazu. Dafür haben wir den geschichtsträchtigen Septimer, den magischen Lunghin und den motorisierten Julier zu einer grossen Runde zusammengefügt. Und diese Runde hat uns einige tolle und genussvolle Momente beschert.

Distanz: 38.3 km
Höhenmeter: 1’228 hm (ca. 350 hm schieben/tragen)
Downhillmeter: 1’788 dm
Bahnunterstützung: Postauto St.Moritz – Julierpass
Bike: Liteville 301 Mk14

4 Gedanken zu „dreifach Wasserscheide“

    • Diese Schlaufe hatte ich auch noch im Visier. Wir haben sie aber aus Zeitgründen ausgelassen. Die Besteigung vom Piz war mir wichtiger.
      Wenn man die Runde vom Engadin startet, so ist das Timing mit dem Postauto besser und der Leg kann gut eingeplant werden. Eine Möglichkeit wäre, gleich den direkten Übergang zu nehmen 🙂 … aber keine Ahnung wieviel dort fahrbar ist. Und vor allem müsste man auch diesen mühsamen Höhenweg nehmen.

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  1. Genau das lieben wir doch, unbekanntes Gelände, neue Trails entdecken, auch mal Misserfolge einstecken können, die nächste Tour recherchieren. Sehr schöner Bericht, insbesondere die Geschichte zur Wasserscheide auf dem Lunghin. Gruss und schöne Zeit. Bleib gesund. Lg Pesche

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