Val d’Uina Plus

Endlich habe ich es geschafft, ein paar Tage ins Unterengadin zu fahren und den Bergsommer zu geniessen. Klar, was hier nicht fehlen darf, ist das bekannte Val d’Uina. Ich kenne es nur von Bildern und es steht schon sehr lange auf meiner ToDo-Liste. Heute wird der Besuch Wirklichkeit.

Die Sonne strahlt beim Start in Scuol bereits vom blauen Himmel. Durch den alten Dorfteil rolle ich das Unterengadin runter bis Sur En. Jetzt folgt der Aufstieg. Ich bin erstaunt, dass es ordentlich steil aufwärts geht und sich die Alpstrasse weit bis ins Seitental hinein zieht. Andere Biker haben ein ähnliches Vorhaben. Eine Gruppe Voralberger und eine Gruppe Deutsche kämpfen sich ebenfalls Richtung Schlucht.
Die letzten Zeichen der Zivilisation findet man bei Uina Dadaint. Hier endet ebenfalls die Alpstrasse.

Ein Paar Meter sind noch fahrbar, bevor die Tafel mit dem Hinweis „ab hier schieben“ den Beginn vom Felsenweg anzeigt. Apropos schieben oder fahren. Es gibt ja solche, die sich damit brüsten, den Weg gefahren zu sein. Ok, abwärts ist das möglich. Aber seit vernünftig, fahren lohnt sich nicht. Geniesst die fantastische Schlucht mit dem einmaligen, in den Fels gehauenen Weg. Dieser Streckenabschnitt ist Genuss und Abenteuer pur, auch zu Fuss. Mich haut die Schönheit fast aus den Socken. Bilder können nur einen zaghaften Eindruck vermitteln. Live ist der Ort noch hundert Mal schöner und spektakulärer. Wer also das Val d’Uina noch nie besucht hat, muss dies unbedingt nachholen.

In der Schlucht überwindet man knappe 300 Höhenmeter. Ich muss alle paar Meter anhalten, ein Foto knipsen und die Felsen auf mich wirken lassen. Mitten in der Schlucht dominiert die Farbe grau. Man ist eingezwängt zwischen senkrechten Wänden. Da bist du als Mensch einfach ein winziges, hilfloses Wesen …

Dann endet die Schlucht. Nach dem Grau kommt das Grün. Auf einen Schlag befinde ich mich in einer anderen Welt. Vor mir liegt eine Hochebene, die Alp Sursass, die weiter zum Schlinigpass und zur Sesvennahütte führt. Alle Biker und Transalpfahrer folgen diesem Übergang. Wie könnte es anders sein, ich nicht. Für mich gibt es ein Plus. Ein Plus an Höhenmeter, ein Plus an Bikeschleppen, ein Plus an Abenteuer, ein Plus an Einsamkeit …

Nach dem Schieben folgt das Tragen. Mein Bike kommt auf die Schultern. Ich gewinne schnell an Höhenmeter. Die ersten Wanderer kommen mir entgegen, welche in der Lischanahütte übernachtet haben. Was? Wo möchtest du denn mit dem Bike hin?
Ich bin voller guten Dinge und plaudere mein Vorhaben aus. Was ich noch nicht weiss, wie lange und beschwerlich der Weg wirklich ist. Im Nachhinein ist mir klar was sie gedacht haben … der spinnt vollkommen.

Vor mir sehe ich den Berghorizont. Dort ober müssen die Seen sein. Oben angekommen, ist der nächste Horizont zu sehen. Genau so geht das Spiel weiter. Ein paar Meter sind fahrbar, aber kaum der Rede wert. Wieder wird geschoben und geschultert.
Ich gelange endlich an einen kleine See. Meine Energie ist aufgebraucht. Umkehren macht keinen Sinn mehr. Ich befinde mich im Niemandsland. Weit und breit nur Berge, Täler, Mulden und Steine zu sehen. Ich setze mich hin und schiebe etwas Energie nach. So langsam kann ich die verwunderten Blick der Wanderer nachvollziehen. Ich wünschte mich zurück nach Scuol, im Liegestuhl die Sonne geniessen …

Die nächste Stufe ist zu bezwingen. Endlich erblicke ich die Lais da Rims. Der Wasserspiegel ist ziemlich tief, der See daher eher klein. An den Schattenhängen liegt Schnee. Und wo bitte ist der Pass, die langersehnte Erlösung? Ich ahne es, das Bike bleibt auf den Schultern. Ein paar Meter weiter kann ich in weiter Ferne am Horizont den höchsten Punkt erblicken.

Das Grün weicht wieder dem Grau, gespickt mit der Farbe weiss. In den Ebenen kann ich mich auf das Bike schwingen. Die Freude ist jeweils kurz. Die harte Realität besteht aus schieben und tragen.
Meine Kräfte schwinden immer mehr. Dieses Plus hat es in sich. Dafür ist die Landschaft grossartig. Schon über Stunden kein Anzeichen von Zivilisation, nur Natur pur.

Geschafft, ich stehe auf einer flachen Steinwüste. Vor mir der Wegweiser und eine rote Bank, die einen krassen Gegensatz zum Niemandsland bildet. Dieser Ort hier oben ist richtig cool. Mir gefallen diese Steinwüsten. Fuorcla da Rims liegt knapp unter 3’000 Meter. Der Pass bildet für mich den Abschluss der endlosen Gebirgslandschaft und den Einstieg in das Tal der Tiefenmeter.

Eine lange Pause gibt es nicht. Die Zeit ist fortgeschritten und ich weiss nicht, wie die Abfahrt wird. Man liest ja, dass vom ersten Teil bis zur SAC-Hütte nicht viel fahrbar sei.
Auf gehts in die Abfahrt. Der erste Steilhang ist tiefes, loses Schotter, fast sandig. Ein Weg ist nur schwer auszumachen. Der Hang ist wohl immer in Bewegung. Ich rutsche die paar Meter zu Fuss runter. Dann endlich der Trail. Der lose Schotter bleibt, aber für jene die gerne ohne Gripp unterwegs sind, alles fahrbar.
Eine Felsenpassage zwingt mich nochmals zum absteigen. Fast auf allen Vieren müssen hier ein paar Höhenmeter vernichtet werden. Dann geht es fahrend weiter. Zwischendurch fast flowig, dann wieder schottrig.
Von wegen nicht fahrbar. Ich hätte mir die Abfahrt viel schlimmer vorgestellt. Für mich ist es Spass pur, toll herausfordernd.

Das enge Val Lischana ist komplett anders als der obere Teil mit der weiten Landschaft. Weit unten kann die Chamonna Lischana CAS erblickt werden. Zwischendurch schweift der Blick sogar bis nach Scuol.

Die SAC-Hütte lasse ich links liegen. Die letzten erschöpften Wanderer erklimmen die restlichen Höhenmeter zu Hütte. Ich kann da nur grinsen. Meine Energie ist zurück. Ich fühle mich im Element. Rasant geht es abwärts. Herrlich hier zu biken, wo fast keine Artgenossen unterwegs sind. Der Trail bleibt sehr steinig und ist gespickt mit technischen Leckerbissen.

Je weiter ich nach unten kommen, umso rasanter wird die Fahrt. Ich verschwinde im Wald. Grosse Absätze überraschen mich. Diese sind ohne Zahnausfall am Ritzel nur fliegen zu überwinden. Ich übertreffe mich selber, bin kaum zu bremsen. Die Airtime scheint mir ziemlich hoch zu sein 😁 … wie genial.
Die Abfahrt ist ein wahrer Leckerbissen. Aber der Weg dorthin ist verdammt hart.

Es wird mir wieder einmal klar, nur wer solche Strapazen auf sich nimmt, lange Tragestrecken nicht scheut, keine Angst vor knackigen Trails hat, auf ein E-Bike verzichtet, kann solche Abenteuer erleben, solche Trails geniessen, solche Landschaften entdecken.
Die Tour ist nur für wilde Hunde, nicht für Mainstreen-Biker! 😉

Zurück auf dem TCS-Camping öffne ich ein Bun Tschlin aus dem Unterengadin 🍺 … und lasse den Tag nochmals durch den Kopf gehen. Ein echt verrückter, aber unvergesslicher Tag. Ich bin glücklich, solche Touren erleben zu dürfen.

Distanz: 32.8 km
Höhenmeter: 1’885 hm (sehr viele davon schiebend und tragend)
Bike: Liteville 301 Mk14

2 Gedanken zu „Val d’Uina Plus“

  1. Hey, suuuper Bericht mit vielen Emotionen und den dazugehörigen Bildern bravoo!

    Es ist beruhigend und schön zu lesen, das auch Rotscher „au mal“ an seine Grenzen stosst -:)

    Gruss Davut

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  2. Hehe, ich habe gestern auch gerade mit der bearbeitung der fotos begonnen. Deine schilderungen hier über die endlosen geländestufen im niemandsland bringen die erinnerungen an den beschwerlichen aufstieg zurück, diese hatte ich nämlich schon wieder verdrängt und nur die geniale schier endlos lange abfahrt gespeichert. Deluxe tour und deluxe biera engiadinaisa, viva 😉

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